Schon oft ging ich den Weg durch die schwere, schmiedeeiserne Tür. Genauso oft zerriss der zufallende Türflügel mit lautem Scheppern die Stille des vor mir liegenden Friedhofes. Immer hinderten mich mitgebrachte Gartengeräte daran, die Tür leise zu schließen. Doch schon nach wenigen Metern war der Krach vergessen, weil ich das Grab meiner Schwiegereltern erreichte, um es für den Tag vorzubereiten, an dem der Toten gedacht wird: Totensonntag.
Als ich vor wenigen Tagen den Friedhof betrat, stand ich nach wenigen Schritten wieder vor dem Grab meiner Schwiegereltern, dass nun zur letzten Ruhestätte meiner Frau geworden war. Diesmal hörte ich nicht den Krach des ins Schloss fallenden Türflügels. Auch nicht die gedämpften Verkehrsgeräusche der nahen Straße. In jener Stunde war ich taub für alles, was um mich herum geschah. Schweigend und in schmerzhaftem Gedenken versunken stand ich da und spürte die innere Leere der letzten drei Monate noch tiefer werden. Ich glaubte, die verrinnende Zeit würde Besserung bringen. Ich irrte mich. Alles war so geblieben und auch die erstickende Trauer nicht weniger geworden.
Mit Blick auf die Christrosen, die ich am Tag zuvor gepflanzt hatte und unter deren weißen Blüten meine Frau nun ruhte, lehnte ich mich an den Rand eines nur wenige Meter entfernten Wasserbeckens.
Doch dort, im nebligen Halbdunkel des vergehenden Tages, lockerte sich meine innere Erstarrung plötzlich. Erinnerungen an die letzten Monate nahmen Besitz von mir, in denen ich begann zu akzeptieren, dass dies nicht eine Trennung von Tagen oder Wochen war, sondern für die Ewigkeit. Und ich dachte an den bitteren Trotz, der nach den Trauerfeierlichkeiten in mir aufstieg als ich mir vornahm: "Ich will und werde der Zukunft ins Gesicht sehen. Was durchzustehen ist, muss durchgestanden werden", - um dann bei den immer länger werdenden Abenden und der Sprachlosigkeit am Frühstückstisch auf eine harte Probe gestellt zu werden.
Doch dann hellte sich meine Stimmung unverhofft auf. Sogar eine Spur von Heiterkeit erfasste mich, als ich an unseren über zweiundfünfzig Jahre zurück liegenden Hochzeitstag dachte. Wie jung waren wir damals - fast noch Kinder - so schien es mir immer auf alten Fotos.
Der Pfarrer, der uns traute, war anderer Meinung. Uns reif genug sehend für eine lange, gemeinsame Reise in die Zukunft, stellte er eine Verbindung her zu dem kleinen Boot, welches wir uns schon in der Verlobungszeit gekauft hatten und auf dem wir einige Tage unserer Flitterwochen verbringen wollten.
"Ihr werdet hinausfahren", sagte er, "und oft wird das Wetter schön sein. Aber nicht immer. Dann wird es stürmen und wenn ihr zusammenhaltet, werdet ihr den Sturm überstehen. Ihr werdet erkennen, dass es am besten ist, sich beim Steuern abzuwechseln. Verliert nie den Mut, das ist das Wichtigste. Am Ende erwartet euch immer ein sicherer Hafen."
Dankbarkeit für diese über ein halbes Jahrhundert zuvor ausgesprochenen Worte erfüllten mich, als ich den Heimweg antrat. Und plötzlich sah ich den Totensonntag nicht nur als Gedenktag, sondern auch als Meilenstein auf dem Weg in die eigene Zukunft. Zuversicht beflügelte plötzlich mein Denken, weil die Erinnerungen ja lebendig bleiben und damit jener Teil unseres gemeinsamen Lebens, der uns über den Tod hinaus weiter verbindet! Wenn auch der vertraute Schritt oder die Stimme von nebenan nie mehr erklingen werden, bleibt - das Vergehen der Monate und den Wechsel der Jahreszeiten überbrückend - eine Atmosphäre von Gegenwart zurück.
Auch dann, wenn ich mein Boot jetzt allein steuern muss.