die Kleinbürgerlichkeit und Großzügigkeit gleichermaßen ausstrahlt -
vor allen Dingen aber Heiterkeit. Dies alles spiegelt sich in folgender Reportage nieder und so ist nicht alles Erlebte tierisch ernst zu nehmen...Wenn dem Leser aber beim Lesen ein Lächeln übers Gesicht gleiten sollte, dann habe ich mein Ziel erreicht.
Nach einer Stippvisite im Frühjahr vergangenen Jahres wollte ich mir im Spätsommer 2016 einen Überblick über den Hannoverschen Stadtteil verschaffen, der selbst die Größe und das Flair besitzt, eine eigenständige Großstadt zu sein.
Den richtigen Überblick verschafft man sich am besten dort, wo man den Blick von oben auf das zu Erforschende schweifen lassen kann. Von diesem erhöhten Punkt aus bekommt man das gute Gefühl, „über den begrenzenden Tellerrand“ geschaut und so das Gesichtsfeld wohltuend erweitert zu haben – eine Methode, die sich nicht auf Stadtbesichtigungen beschränken muss. Das ist aber keine Neuigkeit, das weiß ohnehin jeder, der es mal ausprobiert hat.Also zog ich meine Wanderschuhe an, um gleich am Anfang meiner Erkundungstour durch Linden die größte erwartete Schwierigkeit hinter mich zu bringen, die schweißtreibende Besteigung des Lindener Berges. Ich hoffte inständig, der Gipfel möge nicht von Wolken verhüllt oder gar vereist sein. Und ich stellte mir vor, wie von ganz oben Linden‘s Häuserschluchten genauso schachbrettartig unter mir ausgebreitet liegen würden, wie die New Yorker Straßen beim Blick aus einem Flugzeugfenster.
Ich war gut vorbereitet auf die Erkundungstour. Kletterseil und ein Bündel Karabinerhaken aus meinen Seglerbeständen lagen im Kofferraum meines Wagens. Wattierte Jacke und Hose auch und auch ein dickes Paket Butterbrote, um den Gipfelsturm nicht aus Energiemangel abbrechen zu müssen.
Unten in Hannover regnete es in Strömen und ich ahnte Böses. Vermutete ich doch zu Recht, dass der Regen oben in Schnee und noch höher in Eis übergehen würde.
Als ich die Höhe eines kleinen, unscheinbaren Hügels mit meinem Auto erreichte, fragte ich einen zufällig vorbeikommenden Schirmträger, der aus einer dunklen Regenwand auftauchte, wie ich am schnellsten zum Lindener Berg käme. Er verhielt kurz, schüttelte den Kopf und knurrte abweisend: "Wollen sie mich auf den Arm nehmen?"
Seine verärgerte Reaktion verstand ich Sekunden später, als die Regenbö abzog und sich aus ihr ein grauer Turm herausschälte, der sich als Lindener Turm entpuppte. Ich war gewaltig enttäuscht über den Hannoverschen Maulwurfhügel, auf dem ich stand und den die Hannoveraner großspurig als "Linderer Berg" bezeichnen. Soviel Aufhebens um so viel Wenig-Berg!
Doch das unerwartete, vorzeitige und unspektakuläre Gipfelerlebnis verschaffte mir jede Menge Zeit, die runde Kuppe das Hügels näher zu erforschen und ich war überrascht, was die Hannoveraner dem Lindener Maulwurfhügel alles zugemutet haben.
Lindener Turm, Küchengarten Pavillion, Hochbehälter für die Trinkwasserversorgung und eine Volkssternwarte zierten den "Gipfel" und als wäre das noch nicht genug, beherbergt der Berg in seinen Parkanlagen auch einen Friedhof. Vielleicht deshalb, weil der Himmel dort ein winziges Stückchen näher ist und vielleicht waren die dort Begrabenen auch besonders verdiente Bürger, die ein Anrecht darauf hatten, nicht in den Niederungen Lindens vergessen zu werden.
Jedenfalls hat jeder dort "Ruhende" reichlich Platz um sich herum hat, denn die Gräber liegen regellos und weit voneinander entfernt im Dämmerlicht der uralten Laubbäume.
Ist die Friedhofseite der Melancholie gewidmet, dient die andere Seite dem winterlichen Vergnügen - einer Rodelbahn.
Abwärts ging es, nachdem sich die Volkssternwarte alles andere, aber nicht als Volksnah erwies. Zutritt verboten hieß es und als ich wenige Minuten später durch die Kaianlagen des Lindener Hafens steuerte, hatte ich den Vorgang fast vergessen, denn die Wolken zogen die Vorhänge beiseite und ein Blau, wie ich es nach dem eben noch herrschenden Schwarzgrau nicht für möglich gehalten hätte, verzauberte den Himmel und die unter ihr liegende Stadt.
Der schwarze Bär war mein nächstes Ziel und nach einigem Suchen fand ich ihn auch - bärengerecht eingesperrt hinter Metallgitterzäunen und ich fand auch zwei in das Fußwegpflaster eingelassene Bronzeplatten, auf denen zu lesen stand, woher der schwarze Bär – dieser Stadtteil oder besser gesagt, diese spezielle Kreuzung Lindens – ihren Namen bekam.
Weiter ging es, die Zeit wurde schon knapp. Mein Weg führte mich an der Halbruine des Ihme Centrums vorbei und noch ehe ich die letzte Ecke dieses architektonischen Trümmerhaufens umgangen hatte, begrüßten mich schon „die drei warmen Brüder“ der Stadtwerke und streckten ihre heißen Rohre in den azurblauen Himmel.
Nicht hässlich stachen sie in den Himmel, gebe ich zu. Ihr Rauch war nicht sichtbar und die „ragenden Röhren“ erstrahlen nachts in bunten Farben, erfuhr ich später. Sie passen gut in die Stadtlandschaft und dennoch kommt es mir vor, als hätten die Erbauer sich an Frankreich, am Rhone- Tal orientiert. Dort sind die riesigen Kühltürme der Atomkraftwerke in ihrer Gesamtheit dreist mit Gemälden spielender Kinder in Sandkästen geschmückt.
Perversion der Kunst oder Täuschung der Unbedarften und Gleichgültigen oder alles zusammen? Nun, Linden ist nicht so zynisch und schließlich wollen wir nicht ohne Strom unser Dasein fristen.
Ich weiß noch, als die „drei warmen Brüder“ errichtet wurden. Ich habe daran mitgewirkt, dass oben aus den Schornsteinen nicht nur heiße Luft rauskommt, sondern unten auch Strom für die Stadt produziert wird. Aber das ist eine andere Geschichte und verführt zum Abschweifen.
Das Leben hat so viel Erinnerung bei mir angehäuft, welches sich manchmal unkontrolliert beim Schreiben Luft verschafft. Ich werde mich bessern - hoffentlich - und um nicht wieder auf dumme Gedanken zu kommen, beschleunigte ich meinen Schritt etwas, um möglichst viel von dem zu erfassen, was das Herz Linden‘s ausmacht.
Und auch Linden‘s Seele, die nie ganz rein war. Aber wer hat schon eine reine Seele? Seelen sind nie wirklich weiß und glücklicherweise selten tiefschwarz. Die gesuchte, stadtgewordene „Lindener Seele“ spiegelt ja nichts anderes wieder, als die Seelen der Bevölkerung aus Vergangenheit und Gegenwart und die sind vielschichtig.
So bleibt ein Hauch nicht immer lupenreinen Leumunds in Lindener Luft hängen, der diesen Stadtteil Hannovers für Besucher zum Besonderen, zum prickelnden Erlebnis werden lässt. Die Multi-Kulti Bevölkerung ist es, die an mancher Häuserecke dem Besucher einen exotischen Hauch internationaler Kleinbürgerlichkeit und Provinzialität entgegen wehen lässt. Selten riechbar aber immer sichtbar. Besonders dort, wo ungebetene Maler ihre Kunstwerke an die Häuser sprühten.
Betrachten wir’s sachlich. Lindens früher „ungesunder Ruf“ gehört längst der Vergangenheit an, aber in den Köpfen spukt er immer noch herum. Es ist eben wie bei einem gefallenen Mädchen: Der Ruf bleibt, mag sie auch noch so anständig geworden sein. Doch was wirklich anständig oder unanständig ist, bleibt sowieso der Beurteilung der jeweiligen Zeitströmung überlassen. Das gefallene Mädchen kann auswandern und alles abschütteln, sich unsichtbar machen, neu anfangen. Eine Stadt kann das nicht - und ein Stadtteil schon gar nicht. Und Linden hat das auch nicht nötig!
Mein nächstes Ziel war der Küchengarten und die Suche danach, wie er zu seinem Namen kam. Ich fand es nicht heraus. Aber einige Sprüche auf dem Eingangsportal des Theaters am Küchengarten beeindruckten mich ebenso, wie ich die vielen Sprüche und doppeldeutigen Bezeichnungen, die ich an und in den Geschäften finden sollte, die in ihrer tieferen Bedeutung eben auf eine kaum zu beschreibende Art und Weise das Denken und die Lebensphilosophie der Lindner Bevölkerung wiedergeben. Man muss es lesen, dann versteht man, was gesagt werden soll.
Wo sonst gibt es ein Schild, das an eben dieser oder jenen Stelle zum Küssen auffordert? Oder das Blumengeschäft, das sich "Unverblüht" nennt? Oder ein Filmstudio, das sich „Der Großen Kleinkunst“ gewidmet hat. Oder das Bio – Kaffee, welches eine Weizenähre als Logo benutzt und sich „unartgerecht“ Doppelkorn nennt.
Die Lindener sind kreativ, das muss man ihnen lassen. Die „Waschweibers Waschküche“ ist nur eine von vielen Beispielen, die ich besichtigt hatte und bei denen praktischerweise die Waschmaschinen menschliche Namen tragen und bei einem Defekt mit einfachen Zetteln wie: „Erna ist krank“, außer Betrieb gesetzt werden.
Auch das „Anti-Idiotikum“, dass eine Apotheke anbot und sogar auf seine Bestandteile hinwies, ist „lindentypisch“. Ob es wirkt, wissen die, die nicht der Idiotie zum Opfer fielen.
Wo sonst, als in Linden, bekommt man Bekleidung und Ballkleider und Schulranzen aus alten Feuerwehrschläuchen genäht, zu kaufen? Nirgends! Und ist man vom Laufen müde, hat man viele Möglichkeiten, sich auszuruhen und die gesammelten Eindrücke bei einer Tasse Kaffee sich setzten zu lassen.
Entweder man schließt sich den Müßiggängern auf der Limmerstraße - dem Zentrum Lindens - an und "limmert" mit den Einheimischen und Nichteinheimischen in trauter Eintracht beim Müßiggang oder man verzieht sich in eine der urigen Kneipen oder eines der Kaffees, die in oder neben der ehemaligen Bettfedernfabrik untergebracht sind. Dort ist alles aus Ziegelstein erbaut und bunt und alternativ und nicht ganz ernst zu nehmen - oder gerade deswegen doch…
Meine Meinung dazu schwankt. Unabhängig davon habe ich mir darüber Gedanken gemacht, warum diese Fabrik nicht mehr besteht. Vielleicht, weil sie schlechtes Material lieferte? Aber was stellte sie genau her? Bettfedern oder Bettfedern?
Die Federn, die das kuschelige Wärmegefühl erzeugen, Daunen, produzieren eigentlich nur Gänse. Also bleiben nur die metallischen Federn - die Spiraligen, die Gedrehten, die quietschenden Krachmacher übrig - über die sich die nachbarlichen Bettbenutzer zu oft aufgeregt haben, weil eben deren Quietschen bei zu viel Leben in nächtlichen Betten die Nachtruhe störte und dieser lautstarke „Aktivitätsindikator“ letztlich das Aus für die Fabrik bedeutete? Jedenfalls blieben irgendwann die Aufträge aus und die Zeit für die Fabrik fror um 15.46 Uhr für immer ein.
So, wie die Frage nach dem Aus für die Fabrik unbeantwortet blieb, konnte mir auch niemand die Frage beantworten, warum sich auf der Dornröschenbrücke, die sich über die Leine spannt, Lindener und Herrenhäuser Bürger alljährlich am Fährmannsfest gegenseitig im Juli mit Kohlköpfen, Eiern, Tomaten, und elend stinkenden Gegenständen bewerfen und so offenbar mit dieser Tradition einen alten, noch nicht ganz bereinigten Zwist am Leben erhalten.
Die Kontraste sind es, die Linden so interessant machen. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn nur wenige Straßenzüge von der Kleinkunst entfernt gepflegte Villen das Stadtbild prägen, von denen ich nur zwei einfüge, um das Bild Lindens nicht einseitig werden zu lassen.
Bleibt noch die Lindener Brauerei zu erwähnen, weil „Lindener Bier" etwas Besonderes ist. Lindener Bier ist Maurerbier.“ Es ist schon so. Kein Ziegelstein in der Nachkriegszeit wurde von schwieligen Maurerhänden auf den Nächsten gestapelt, ohne Lindens schäumenden Gerstensaft in erreichbarer Armlänge zu wissen. Lindener Bier war das Schmiermittel für die Unzahl von Maurerkehlen, die den Wiederaufbau Lindens und Hannovers nach dem Kriege überhaupt erst ermöglichte. Und so gesehen ist Lindens Gerstensaft Treibstoff und Klebstoff zugleich, der Hannover und Linden so fest zusammen hält, wie kaum eine andere Stadt dies von sich behaupten kann. Doch wer in den Geschichtsbüchern nachsehen will, ob das wirklich so war, wird enttäuscht werden. Das wissen nur die, die einen Großteil ihres Lebens sich eben dort aufhalten mussten, wo Maurer tätig waren und wo lieber Fässer als die viel zu unergiebigen Flaschen geleert wurden und deren Inhalt sich manchmal nicht nur an der Kehle, sondern auch im Mörtel wiederfand.
Ich komme zum Ende. Meine Reportage ist leider etwas länger geworden, eben weil Linden so vielschichtig ist. Und wenn Sie bis hierher durchgehalten haben, sind Sie vielleicht neugierig geworden, selbst "die Geheimnisse Lindens" aufzuspüren. Wenn ja, viel Spaß dabei!
Mir hat der Spaziergang jedenfalls die Seite einer so Stadt gezeigt, wie man sie nur zu Fuß erleben, begreifen kann und bei der späteren Niederschrift Schilderung auch beginnt, ihre Besonderheiten zu verstehen.
“ gehört längst der Vergangenheit an, aber in den Köpfen spukt er immer noch herum. Es ist eben wie bei einem gefallenen Mädchen: Der Ruf bleibt, mag sie auch noch so anständig geworden sein. Doch was wirklich anständig oder unanständig ist, bleibt sowieso der Beurteilung der jeweiligen Zeitströmung überlassen. Das gefallene Mädchen kann auswandern und alles abschütteln, sich unsichtbar machen, neu anfangen. Eine Stadt kann das nicht - und ein Stadtteil schon gar nicht. Und Linden hat das auch nicht nötig!