Als ich vor Jahrzehnten Vorbereitungen für eine wichtige Prüfung traf, versuchte ich mir zur Entspannung das Spielen auf einer Mundharmonika beizubringen. Einige Abende lang schlug ich mich mit Kinderliedern wie "Alle meine Entchen" und "Hänschen klein" herum. Nichts klappte. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Schließlich gab ich auf und vergrub mich wieder in meinen Büchern.
Irgendwann entdeckte meine Sechsjährige das Instrument, setzte es erwartungsvoll an den Mund und entlockte ihm jede Menge "schräger Töne." Doch schon beim Rennen in den Garten improvisierte sie eine Melodie, die ich trotz aller Mühe nicht fertig gebracht hatte. "Verrückt", sagte ich zu meiner Frau. "Sie spielt das Instrument so, wie ich es wollte: Einfach nur Spielen, entspannen und Spaß dran haben."
Ich bestand die Prüfung trotzdem. Viel später während einer Diskussion in Freundesrunde aber erinnerte ich mich wieder an das kleine Erlebnis und stellte mir und meinen Gästen einige Fragen: "Stecken wir Erwachsenen in 'unseren Spaß an der Sache' vielleicht viel zu viel Mühe? So, dass es am Ende gar kein Spaß mehr ist? Ich spürte, dass Kinder etwas besitzen, was uns Erwachsenen abhanden gekommen scheint. Aber was?
Das Geheimnisvolle könnte sein, dass Kinder sich nicht darum kümmern ob das, was sie gerade tun, der Mühe wert ist. Sie spielen um zu spielen und denken dabei nicht an einen Zweck. So, wie man am Vogelhaus Vögel beobachten kann, ist ein Spielplatz wie dafür gemacht, Kinder zu beobachten. Vielleicht rennt ein Kind zum Klettergerüst, hängt sich mit den Kniebeugen an eine Querstange und schert sich nicht darum was passieren könnte, wenn es abstürzt. Hingerissen vom Anblick einer Welt, die auf dem Kopf steht, genießt es die andere Perspektive und hat dabei nichts anderes im Sinn als pure Freude am Leben und an den Reichtümern seines Spielplatzes.
Ich hänge mich an keine Kletterstange um mich zu unterhalten. Ich lasse mich unterhalten - vom Fernsehen, in der Oper oder sonstwie. Ich spiele sogar nach festen Regeln: Skat, Kniffeln oder Kegeln und lasse mir dabei vorschreiben, was ich zu tun habe. Ein Kind nicht. Ein Kind macht sich die Regeln selbst! In seiner Fantasie wird eine Wäscheklammer zur Märchenfigur Figur und der halbdunkle Raum unter dem mit einer Decke zugedeckten Tisch zur geheimnisvollen Höhle. Der bunte Stein, von uns achtlos zur Seite gekickt, wird in der "Höhle unter dem Küchentisch" zum behüteten Schatz.
Daran dachte ich, als ich vor kurzem an unserem Schlosspark vorbei wanderte. Dieser Park hinter der schiefen Ziegelmauer mit seinen uralten Bäumen, den niedrigen Büschen und dem Schlossgraben war unser Abenteuerspielplatz. Hier lebte Tarzan. Hier schwangen wir uns an den von den Bäumen hängenden Kletterpflanzen durch die Luft. Hier waren wir auf der Flucht vor dem Gärtner, der - so schien es - nichts anderes zu tun hatte, als uns aufzulauern und in den dunklen, runden Schlossturm mit seinen tausenden Fledermäusen an der Decke zu sperren.
An jenem Abend aber sah ich hinter der Ziegelmauer nichts Geheimnisvolles und überlegte, ob und wie diese verlorene Fantasie der Kindheit wenigstens zum Teil wiederbelebt werden könne. "Vielleicht", fragte ich mich, "sollte man manchmal einfach einem Impuls folgen - ohne auf das einengende "Wenn und Aber" zu hören. Vielleicht sollte man die Enkel aufmerksamer zu beobachten. Oder noch besser: Mit ihnen spielen - sich vielleicht sogar selbst an ein Klettergerüst hängen und mit den Enkeln entdecken, wie leicht die Welt auf den Kopf gestellt werden kann, ohne dass sie aus den Fugen gerät. Nur Kinder können uns - wenn wir sie lassen - zurück in die helle Welt des Staunens und der Impulsivität führen. In eine Welt, die in solchen Augenblicken für uns dann doch noch nicht endgültig verloren ist."